Babylon: Das Ischtartor

Babylon: Das Ischtartor
Babylon: Das Ischtartor
 
»Die schönste Stadt unter allen, von denen wir wissen«, nannte Herodot Babylon, das seit dem 2. Jahrtausend v. Chr. das kulturelle Zentrum der gesamten vorderasiatischen Welt bildete. Diese Vormachtstellung hatte um 1700 v. Chr. Hammurapi begründet, als er die unbedeutende Kleinstadt zur Hauptstadt seines Reichs erhob. Nach mehrfacher Zerstörung erlebte Babylon seine Blüte während des neubabylonischen Reichs unter Nabopolassar und Nebukadnezar II. Unter den Achaimeniden eine der drei Hauptstädte des Perserreiches, wollte noch der in Babylon verstorbene Alexander der Große sein Weltreich von hier aus regieren. Das heute bekannte Babylon ist es sich jedoch in der Hauptsache die Stadt Nebukadnezars, da der hohe Grundwasserspiegel ein Vordringen der Ausgräber in tiefere, ältere Schichten verhindert.
 
Das berühmteste der sieben nachgewiesenen Tore Babylons ist das Ischtartor, das direkt neben dem Königspalast lag. Es war sicher das von den Königen und bei offiziellen Anlässen benutzte Stadttor; zudem durchquerte hier die Prozessionsstraße vom Heiligtum des Gottes Marduk zum Neujahrsfesthaus die Stadtmauer. Das von zwei mächtigen Türmen flankierte Tor hatte zwei Kammern, sodass der Zugang durch drei Paare von Torflügeln verschlossen werden konnte, wenn der Feind in den weit vor die Mauer gezogenen, ebenfalls befestigten Torvorhof gelangt sein sollte. Die Wände des Tors und der auf das Tor zuführenden Prozessionsstraße waren mit glasierten Ziegeln verkleidet, die zum Teil so geformt waren, dass sich aus ihnen Reliefs von Löwen und Fabeltieren zusammensetzen ließen. Die Anbringung der Tierreliefs an der Außenseite verdeutlicht, dass diese Darstellungen das von außen her drohende Übel abwehren sollten.
 
Diese Toranlage war Teil des umfassenden Bauprogramms Nebukadnezars II. für seine Hauptstadt Babylon. Hierzu gehörte neben der Neuerrichtung des Königspalastes auch der Ausbau der zentralen Kultstätten des Reichs- und Stadtgottes Marduk sowie der Befestigungsanlagen der Stadt. Auf einem Hügel im Norden der Stadt lag der »Sommerpalast«, der - wie auch das zwischen Stadt und Sommerpalast vermutete Neujahrsfesthaus - durch eine zweite Mauer in den gesicherten Stadtbereich einbezogen war. Direkt außerhalb der inneren Stadtmauer sollte zudem ein neuer Palast entstehen, für den aber außer der Terrasse nur noch wenig verwirklicht wurde.
 
Der Hauptpalast Babylons lehnte sich von innen an die Stadtmauer an und bedeckte mit etwa 44 000 m2 die gesamte Fläche zwischen Ischtartor und Euphrat; er war in fünf große Hofsysteme aufgeteilt, deren Höfe wiederum allein zwischen 900 und 3000 m2 maßen. Der Komplex um den »Westhof« nahm vermutlich die Stelle eines älteren Palastes ein, wodurch sich auch die scharfe Abgrenzung zu den östlichen Bereichen erklären würde. Quer zum mittleren »Haupthof« lag ein Prunkraum mit einer Breite von 51 m und einer ungewöhnlichen Tiefe von 17,52 m. Dieser Thronraum war zum Teil in ähnlicher Weise wie die Prozessionsstraße mit glasierten und reliefierten Ziegeln ausgeschmückt. Seine Mauerstärke von 6 m deutet auf eine besondere Höhe dieses Raumkomplexes hin, dessen Überdeckung große Schwierigkeiten verursacht haben dürfte - Nebukadnezar selbst weist in einer Inschrift ausdrücklich auf seine Mühen bei der Beschaffung geeigneter Dachbalken hin.
 
Im Palastbereich sollen sich auch die im Alten Testament erwähnten »Hängenden Gärten der Semiramis« befunden haben. Offenbar ist in der Legende die Erinnerung an eine ungewöhnliche Frau - wohl die Assyrerin Schammu-ramat, die Gemahlin von König Schamschi-adad V. und die Mutter von Adad-nerari III., die für ihren minderjährigen Sohn von 810 bis 806 v. Chr. Assyrien regierte - mit der Erinnerung an ein ungewöhnliches Gebäude zusammengeflossen. Dieser Bau soll einen künstlichen Garten getragen haben, der eine aus dem Bergland stammende Prinzessin ihr Heimweh vergessen lassen sollte. Den Ausgräbern zufolge könnte diese Beschreibung auf einen im Nordosten des Palastes gelegenen Grundriss mit starken Mauern und engen Räumen zutreffen, die man sich überwölbt als Fundament für einen schweren Oberbau vorstellen könnte.
 
Der südlich vom Palast am Euphrat gelegene Kultbezirk des Marduk wurde durch die Verlängerung der Prozessionsstraße und ihre rechtwinklige Biegung in Richtung Euphrat in zwei Bereiche geteilt: einen nördlichen, in dem sich inmitten eines riesigen, von Mauern und Raumtrakten umgebenen Areals der »Turm von Babel«, die Zikkurat mit dem sumerischen Namen »e-temen-an-ki« (»Haus, Fundament von Himmel und Erde«), erhob, und einen südlichen, der eine ebenerdige Tempelanlage mit dem sumerischen Namen »e-sag-ila« (»Haus, das das Haupt erhebt«) enthielt, von der mit zwei Hofsystemen bislang sicher nur ein kleiner Teil erforscht werden konnte.
 
Beide Komplexe befinden sich in einem nur schlecht erhaltenen Zustand. Einer der Achaimenidenherrscher - Dareios I. oder Xerxes I. - hatte die damals wohl bereits baufällige Zikkurat des Marduk abtragen lassen, angeblich um den Turm neu bauen zu lassen; den Schutt enthält ein hoher, weit gestreckter Hügel im heutigen Ruinengelände. Eine Rekonstruktion des Etemenanki kann sich daher nur auf schriftliche Quellen - eine Tafel in babylonischer Keilschrift und den Bericht des Herodot - sowie auf die Reste von Zikkurats an anderen Orten stützen. Die Erforschung des Esagila wird dadurch behindert, dass der hohe Schuttberg, den der Verfall hinterließ, von späteren Generationen als erhöhte Baufläche für die kleine Siedlung genutzt wurde, die sich in Babylon hielt, nachdem der Nachfolger Alexanders des Großen, Seleukos I., seine Hauptstadt an den Tigris nach Seleukeia verlagert hatte. Dieses Gelände blieb kontinuierlich bis in die frühislamische Zeit besiedelt, wodurch sich im Lauf der Zeit ein 15 m hoher Hügel mit Bau- und Schuttschichten über die Reste von Esagila legte. Für den größten Teil dieser Anlage sind daher nur die Außenkanten der Mauern in Tunneln erfasst worden, die in 20 m Tiefe von einem großen Schacht aus vorgetrieben wurden.
 
Aufgrund der so erreichten Informationen konnte man aber immerhin auf eine exakte Entsprechung zum Tempelbereich von Borsippa schließen, der ebenfalls von Nebukadnezar II. erbaut worden war, für die Forschung jedoch leichter zugänglich ist. Danach befand sich der eigentliche Kultbau an einer Seite eines von Raumtrakten umschlossenen, quadratischen Hofs und folgte den normalen Regeln des babylonischen Tempels: Vom Hof her konnte man zwei hintereinander auf einer Achse liegende, gleich große Breiträume betreten, wobei der hintere Raum durch eine Nische in der Rückwand als die Cella ausgewiesen war.
 
Große Anstrengungen brachten die Babylonier für den Ausbau der Befestigungsanlagen ihrer Stadt auf. Die innere Stadtmauer bestand aus zwei 6,5 m bzw. 3,7 m starken Mauern mit einem Zwischenraum von 7,2 m. Diese Mauer umfasste ein Stadtgebiet von 2,5 km2, vor dem sich eine Fläche erstreckte, die durch eine zweite, einfache Mauer und einen Wall mit Graben geschützt war. Das Hauptwohngebiet befand sich dort, wo sich schon die älteren Siedlungen konzentriert hatten. Nach dem vorliegenden Plan der Zeit der chaldäischen Dynastie und der Achaimenidenherrschaft war das Wohngebiet von einem Netz breiter, fast rechtwinklig zueinander verlaufender Durchgangsstraßen durchzogen, von denen aus kleine Zuwege zu den Häusern führten. Die Häuser selbst folgten bei unterschiedlicher Größe und Anlage dem üblichen Schema, nach welchem Räume verschiedener Größe und Funktion um einen Hof herum gruppiert sind. Wir wissen aber weder, seit wann die annähernd rechtwinklige Straßenführung bekannt war, noch, ob sich auch vor der chaldäischen Zeit inmitten eines Wohngebiets solch regelmäßige Platzanlagen befunden haben, wie man sie im chaldäischen Babylon mit einem darauf freistehenden Tempel entdeckt hat. Denn in der altbabylonischen Zeit entwickelten sich Straßen eigentlich unregelmäßig dort, wo die Häuser Zwischenräume ließen, und auch das Konzept des Platzes - etwa für einen Markt - war dem Alten Orient völlig fremd.
 
Prof. Dr. Hans J. Nissen

Universal-Lexikon. 2012.

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